Johannes Brahms, Klavierstücke op. 119

Die vier Klavierstücke op. 119 entstanden zusammen mit den sechs Stücken op. 118 im Sommer 1893 in Bad Ischl. Von den vier Zyklen op. 116 bis op. 119 haben sie die kürzeste Dauer, und sie sind Brahms‘ letztes Werk für Klavier solo. Auf kurzem Raum umfassen sie noch einmal das ganze Ausdrucksspektrum seiner Klaviermusik: Sehnsüchtiges und Fröhliches, Graziöses und Pompöses, Heiteres und tief Trauriges. Vor allem durch das Scherzo-artige dritte Stück und das mächtige Finale enthält der Zyklus – im Gegensatz zu op. 116 bis 118 – einen Rest von traditioneller Viersätzigkeit.
Das Intermezzo in h-moll beginnt vorsichtig tastend, indem der Klang von einem einzelnen Ton jeweils durch absteigende Terzen nach und nach aufgefüllt wird. Diese Terzenschichtung kann als späte Reminiszenz an das Andante aus der f-moll-Sonate op. 5 gehört werden. In einem Brief an Clara Schumann schrieb Brahms: „Das kleine Stück ist ausnehmend melancholisch, und ‚sehr langsam zu spielen‘ ist nicht genug gesagt. Jeder Takt und jede Note muß wie ritard. klingen, als ob man Melancholie aus jeder einzelnen saugen wolle, mit Wollust und Behagen (…)!“ Im zweiten Teil des Stückes schwingt der 3/8-Takt in einem wundervollen, sehnsüchtigen langsamen Walzer.
Das Intermezzo Nr. 2 in e-moll ist im A-Teil demgegenüber von innerer Unruhe durchdrungen, die sich in den, zwischen rechter und linker Hand alterierenden, Doppelgriffen, aber auch in Phrasen irregulärer Länge äußert. Die typisch Brahmssche, etwas ambivalente Tempobezeichnung „Andantino un poco agitato“ trifft den ganz speziellen Tonfall dieses Stückes sehr präzise. Formal durchläuft das Anfangsthema eine Reihe von Variationen, bevor es mit einem langen Septakkord den zweiten Abschnitt in E-Dur vorbereitet. Dieses „Andantino grazioso“ gehört für mich zu den schönsten Einfällen in Brahms‘ Schaffen. Ganz zart („molto p e dolce“) wird das Anfangsthema zu einem weich schwingenden, sehnsuchtsvollen Walzer variiert, oder besser gesagt: veredelt. Wie an vielen Stellen (vor allem) im Spätwerk klingt dieser Walzer wie aus weiter Ferne an, mehr als sehnsüchtiger Traum denn als Realität. Nach diesem bewegenden Mittelteil folgt eine variierte Reprise des A-Teils, an den sich noch einmal eine ganz kurze Reminiszenz an den Walzer-Teil anschließt.
Das Intermezzo Nr. 3 in C-Dur, ist das mit Abstand kürzeste und das heiterste der vier Stücke (man muss wohl schon über besondere Gehirnwindungen verfügen, um aus diesem Stück trotz aller „grazioso“, „giocoso“ und „leggiero“-Bezeichnungen einen langsam getragenen, geradezu feierlichen Gesang zu machen, wie Valery Afanassiev das tut). Ein tänzerisch-leichtes 6/8-Thema wird von perkussiven Terzen über- und von einem durch die Lagen springenden Bass unterlegt und im Laufe des Stückes vielfältig variiert. Ein etwas „ernsterer“ Abschnitt, in dem das Thema in der Vergrößerung und legato beginnt (T. 41f.) wird nach drei Takten durch ein kurzes Abwärts-Arpeggio kurzerhand abgebrochen. Nach einer Kette von luftig-leicht hingetupften Staccato-Akkorden schließt das Stück mit zwei entschlossenen Schlussakkorden.
Die abschließende große Rhapsodie in Es-Dur ist eines der monumentalsten Klavierwerke von Brahms, vergleichbar höchstens noch mit den Kopfsätzen der frühen Klaviersonaten (der akkordische Satz ihres Hauptthemas hat tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Hauptthema der C-Dur-Sonate op. 1). Der sehr einfachen Harmonik, dem simplen, meist aus einer Viertel und zwei Achteln bestehenden Rhyhthmus und der beinahe primitiven Melodie steht eine irritierende, weil durchgehend fünftaktige Phrasierung entgegen. Der ganze Beginn ist nach den äußerst sensiblen, feinen, vielschichtigen ersten drei Stücken dennoch von geradezu brutaler, archaischer Einfachheit und Direktheit. Von den beiden folgenden Mittelteilen wird der erste in c-moll durch den triolischen Beginn aller Takte motorisch vorangetrieben und behält den dunklen, kraftvollen Charakter trotz seines piano-Beginns bei, während der zweite in As-Dur mit seinen arpeggierten Akkorden und seinen springenden Staccato-Bässen an das Intermezzo Nr. 3 erinnert. In diesem Abschnitt besonders auffallend: Einer dreitaktigen Phrase folgt jeweils eine fünftaktige. Nach einer variierten Wiederholung des c-moll-Teils beginnt die Reprise des A-Teils ganz ungewöhnlich als eher heitere, entspannte piano-Variation in C-Dur und steigert sich ganz allmählich bis zur Wiederkehr des Anfangsthemas in Originalgestalt. Höhepunkt dieses beindruckenden Stückes ist die Coda in es-moll, die sich geradezu zu einem Wutausbruch steigert: Wilde Sprünge, heftige Akzente auf den „falschen“ Taktzeiten, energische Arpeggien führen zu einer virtuosen Triolen-Kette und schließlich zu einem mächtigen, akkordischen Schluss in dunklem es-moll (nebenher: Ich kenne keine beeindruckendere Aufnahme dieses Schlusses als die von Julius Katchen). So steht am Ende von Brahms‘ Klavierwerk ein ähnlich kompromissloser, entschlossener, wütender Schluss wie am Ende seiner vierten (und letzten) Symphonie.

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