Gastbeitrag von Peter Westendorf
Dieser Variationszyklus steht im Schatten der größer angelegten Variationen op. 24 über ein Thema von Händel. Dies jedoch völlig unverdient, denn das Werk enthält herrliche Musik, welche den Übergangsstil von Brahms Frühwerk hin zur mittleren Schaffensperiode sehr deutlich manifestiert.
Das Werk hat alle Merkmale, die Brahms Musik zu der Zeit ausmachen: voller Klang mit häufiger Verwendung von Quart-Sextakkorden und Oktavverdoppelung. Daneben zarte Linienführung und sangbare Themen. Der Gestus vieler früher Klavierwerke von Brahms, so auch dieser Variationen, ist eher orchestral, was an den weit ausladenden Akkorden und häufigen Oktaven deutlich wird. Gegenüber den frühen Sonaten hat aber hier bereits ein Wandel stattgefunden, denn sein Klavierstil hat einiges von seiner Sperrigkeit eingebüßt, und ist stellenweise eleganter (um nicht zu sagen verbindlicher) geworden.
Das Werk ist zusammen mit den Variationen op. 21,2 über ein ungarisches Thema 1856/57 entstanden, und Brahms hat es seinem Freund Joseph Joachim zur Begutachtung geschickt, der dann ausführlich darauf eingegangen ist. Er fand jedoch lediglich die Variationen 1-5 bemerkenswert, und die anderen „minder lieb“. Das galt auch für die Coda. Dem Rat seines Freundes folgend ließ Brahms das Werk jedoch eine Weile liegen und bot es dann verschiedenen Verlegern an, von denen Simrock in Berlin es 1862 in 2 Heften herausbrachte.
Die beiden Variationen stehen in einer Reihe bemerkenswerter Variationswerke, die in einer kürzeren Zeitspanne entstanden sind. Es handelt sich dabei außerdem noch um die Variationen op. 23 für Klavier zu 4 Händen über ein Thema von Schumann (das sog. Geisterthema, welches Schumann kurz vor seinem Tod in der Heilanstalt Endenich komponiert hat), und die Variationen op.2 4. Wenn man großzügig ist könnte man noch die Variationen aus dem Sextett op. 18 dazu zählen, die Brahms für Klavier zu 4 Händen und Theodor Kirchner für Klavier zu 2 Händen bearbeitet hat.
Das Thema ist ein breit angelegter Gesang, der in schönstem D-Dur mit vollen Akkorden ausgeführt wird. Dieses Thema ist sehr einprägsam, und erinnert in seiner Grundstimmung etwas an das 2. Thema aus dem Klavierkonzert d-Moll op. 15, das in der Reprise in derselben Tonart steht. Die Tempobezeichnung lautet „Poco larghetto“, was zu einem durchaus getragenen Vortrag verleiten sollte. In etlichen Tonaufnahmen wird hier jedoch vielleicht etwas zu schnell gespielt.
In den folgenden Variationen wird das Tempo leicht beschleunigt, um dann in Variation 5 wieder zum Tempo des Themas zurückzukehren. Brahms bedient sich hier einer weitgehend freien Gestaltung, wobei der harmonische Ablauf, ähnlich wie bei einer Chaconne, erhalten bleibt. Die thematischen Bezüge werden aus dem Variationsthema abgeleitet, und sehr frei gehandhabt, eine Technik die auch in den anderen genannten Variationen zu beobachten ist. In Variation 6 nimmt das Geschehen dann deutlich Fahrt auf. Die Bewegung entsteht durch die gegeneinander geführten Triolen, die über mehrere Oktaven geführt werden. Diese Variation übt einen regelrechten Sog aus, dem normalerweise (Beispiel letzte 3 Variationen aus op. 24) eine weitere Beschleunigung folgen würde. Nicht aber hier, denn die Variation 7 bringt im Andante leicht hingetupfte Töne, die wiederum sehr an das Adagio aus dem 1. Klavierkonzert erinnern.
Bei den Variationen 8 und 9 erscheinen schon die Händel-Variationen am Horizont, denn sie ähneln den kräftig zupackenden Variationen 24 und 25 aus diesem Zyklus. Die Variation 8 ähnelt mit ihren Oktavsprüngen im Bass sehr der Variation 25 aus op. 24. Die Variation 11 hingegen ist eine typische Finalvariation, die aus 2 Teilen und einer Coda besteht. Im ersten Teil wird eine Abwandlung des Themas grundiert durch eine Trillerkette im Bass ausgeführt. Ab Takt 236 erfolgt dann ein langsam sich steigernder Aufschwung, der plötzlich mit einem diminuendo im Pianissimo verebbt, um dann mit einem großartigen Motiv das zunächst im Diskant und dann im Bass erscheint, wiederaufzuerstehen. Die Musik klingt dann ruhig im pianissimo aus.
Danke, lieber Peter, für den schönen Beitrag!
Diese Variationen sind vor allem ein Werk des Übergangs: Brahms hatte zu der Zeit bereits in ausgiebigen Diskussionen mit Joseph Joachim versucht, sich über sein Variationskonzept der Zukunft klar zu werden. Im Kern ging es dabei um die Frage, ob die Melodie oder der Bass, also der harmonische Verlauf, zum wichtigsten Material des Variierens werden sollte. Ein paar Jahre später ging Brahms dabei so weit, dass er ersteren Typus gar nicht als „Variationen“ bezeichnen wollte sondern als „Phantasien“ oder höchstes „Phantasie-Variationen“ (1869 in einm Brief an Adolf Schubring). Die Erfindung neuer melodischer Gestalten über dem „festen Grund“ galt ihm inzwischen als die eigentlich schöpferische Tätigkeit, das Verändern der Melodie hingegen nur als „Spielerei oder geistreiche- Spielerei“. Damit setzte sich Brahms bewusst von Robert Schumann und vor allem dessen Sinfonischen Etüden op. 13 ab. Dem Typus der melodieorientierten Variation war er zuvor in op. 9 noch weitgehend selbst gefolgt, begann aber nun in op. 21 sich allmählich davon zu lösen. Beide Zyklen entstanden dabei in unmittelbarem Zusammenhang mit der genannten Diskussion mit Joseph Joachim, der seinerseits seine „Elfenlied-Variationen“ einbrachte. Die Bassorientierung ist in op. 21 noch nicht so weit fortgeschritten wie in den späteren Zyklen, aber doch in Ansätzen schon vorhanden.