Nachdem Johannes Brahms Anfang zwanzigjährig mit den großformatigen Klaviersonaten op. 1, 2, und 5 auf sich aufmerksam gemacht hatte, wandte er sich in seinen weiteren Klavierwerken zu immer kleineren Formen: Die vier Balladen op. 10 lassen noch einen Rest von Viersätzigkeit erkennen, die fast gleichzeitig entstandenen Schumann-Variationen op. 9 zeigen schon die erste Hinwendung zu kleineren – allerdings noch durch den Bezug auf das gemeinsame Thema gebündelten – Form. Mit den Klavierstücken op. 76 und dann vor allem den späten Stücken op. 116 bis 119 schrieb er dann Zyklen von kurzen, meist nur als „Intermezzo“ oder „Capriccio“ bezeichneten Werken, die nur noch durch wenige, einander ständig variierende Grundmotive miteinander verknüpft sind. Diese Abwendung von der Sonatenform ist umso erstaunlicher, als Brahms sie außerhalb des Klavierwerkes nie vollzogen hat.
Die sieben Fantasien op. 116 schrieb Brahms im Sommer 1892 in Bad Ischl. Sein Freund Theodor Billroth reagierte ratlos-ablehnend auf das Fehlen von „breite(n), schön hinströmende(n) Melodie(n), wie man es doch früher bei Brahms gewohnt war“ und empfahl, der Komponist solle lieber Symphonien, Kantaten, Kammermusik schreiben als „solche Klavierscherze (zu) treiben“. Clara Schumann und Philipp Spitta äußerten sich dagegen voller Begeisterung über die „Perlen“ (Schumann) bzw. hoben deren neuartigen, „ernsten“ und „schwermüthigen“ (Spitta) Charakter hervor.
Die sieben Stücke umspannen in radikaler Subjektivität ein Ausdrucksspektrum von ganz verinnerlichter Träumerei (Intermezzo Nr. 4, ursprünglich „Notturno“) über ruhigen, choralartigen Gesang (Nr. 6) bis zu wilder Raserei (Nr. 7). Am Anfang (Nr. 1) und am Ende (Schluss von Nr. 7) steht dabei jeweils ein quasi mephistophelisches Dreiermetrum. Kompositorisch ist der ganze Zyklus durchzogen vom Variationsprinzip, indem wenige Grundmotive – z.B. ein Repetitionsmotiv, ein auf- bzw. absteigendes Dreitonmotiv, arpeggierte Dreiklänge usw. – ständig variiert werden. So tauchen z.B. die energischen, gegenläufigen Arpeggien am Anfang von Nr. 3 in großer Zartheit in T. 15f. von Nr. 4 wieder auf, wo sie ihrerseits zugleich eine Variation der Anfangstakte dieses Intermezzos sind. Dessen triolische Auftaktfigur ist wiederum rhythmisch mit dem Beginn von Nr. 2 und melodisch mit dem Hauptmotiv von Nr. 5 verbunden. Nr. 7 basiert wieder fast vollständig auf den gegenläufigen Arpeggien, die ihren Ursprung in den Oktavfiguren von Nr. 1 haben, und so weiter: Alle Stücke sind durch ein dichtes Netz gegenseitiger Variation zu einer quasi freitragenden Konstruktion verbunden, dabei aber zugleich von extrem individuellem Ausdruck. Dem fast schroffen, energischen Capriccio Nr. 1 folgt ein Sarabanden-artiges Intermezzo mit harmonisch eigenartig doppelbödigem, „kreisendem“ Mittelteil. Nr. 3 ist ein leidenschaftliches Capriccio mit kontrastierendem, ruhigen Choralabschnitt (der sich bei näherem Hinsehen wiederum als motivische Variation des Anfangs entpuppt), Nr. 4 ein verträumtes Nocturne. Besonders bemerkenswert ist Nr. 5 („Andante con grazia ed intimissimo sentimento), dessen schaukelnde, sogar ganz leicht tänzerische Bewegung immer wieder einem auftaktigen, sechsstimmigen Akkord eine zweistimmige Hauptzählzeit und eine Generalpause folgen lässt, was zu ganz eigenartiger Spannung führt (jedenfalls, wenn die Pianisten die Pause nicht mit dem Pedal überspielen…). Der choralartige Schluss dieses Stückes leitet zu Nr. 6 über, bei dessen Mittelteil Brahms innerhalb des 3/4-Metrums die Bedeutung der Taktstriche durch überlagernde Phrasen verschiedenster Länge fast vollständig aufhebt. Das Capriccio Nr. 7 folgt (im Gegensatz zu den langsamen Schlussstücken von op. 117 und op. 118) äußerlich der Konvention eines virtuosen Abschlusses.