Robert Schumann, Klavierquintett Es-Dur op. 44

Robert Schumanns Klavierqintett Es-Dur op. 44 entstand in seinem „Kammermusikjahr“ 1842 in wenigen Wochen zwischen Ende September und Anfang Oktober. Nach einigen Privataufführungen fand die Uraufführung mit Clara Schumann am Klavier am 8. Januar des folgenden Jahres im Leipziger Gewandhaus statt. Das neue Werk fand von Anfang an begeisterte Zustimmung, und selbst Friedrich Wieck, der erst zwei Jahre zuvor den Prozess um die Hochzeit seiner Tochter mit Schumann verloren hatte, erfüllte das Stück „mit Entzücken“, wie Clara in ihrem Tagebuch vermerkte. Nur Franz Liszt, der Schumann bereits 1839 aufgefordert hatte, Kammermusik zu schreiben, stand dem neuen Werk eher distanziert gegenüber.

Erster Satz, Allegro brillante

Das eingängige, von mitreißendem Schwung geprägte erste Thema ist äußerst raffiniert aufgebaut: Die aufschwingenden großen Intervalle der beiden ersten Takte (Motiv A) werden danach zweimal von einem Motiv (B) mit charakteristischer fallender Quart und drei diatonisch aufsteigenden Tönen „aufgefangen“ (aus diesem Motiv wird später das zweite Thema entwickelt werden, und es wird vor allem weite Teile der Durchführung sowie die Coda prägen). Ab dem fünften Takt scheint sich zunächst das Schema der ersten vier Takte zu wiederholen, allerdings folgt diesmal auf die beiden ersten Takte ein weiterer Sept-Aufschwung in Vierteln, gefolgt von einer Synthese der beiden Motive A und B: Die fallende Quart ist zur Quint b-es erweitert (und bereitet damit den harmonischen Abschluss vor), während die drei aufsteigenden Töne es-f-g den Puls der Halben vom Anfang wieder aufnehmen und das Thema abschließen. Zur Balance der Bewegungsrichtungen trägt zusätzlich bei, dass die „fallenden“ Takte 3 und 4 über einer aufsteigenden Basslinie stattfinden, die „aufschwingenden“ Takte 5 und 6 aber über eine fallenden. Innerhalb der klassischen achttaktigen Phrasenlänge ist dieses Thema, obwohl klar zweiteilig aufgebaut, von einer bemerkenswerten Asymmetrie und einer bewunderswerten Freiheit der Erfindung und Gestaltung.

Der in Takt 9 beginnende Überleitungsteil beginnt mit einer lyrisch ausgesungenen Variante des Hauptthemas:

Durch Vergrößerung der Intervalle  – die Septim wird zur Oktav, die folgenden Sekundschritte werden zu Terzschritten – gewinnt dieser Gedanke an Eigenständigkeit (Takt 35):

Die harmonische Instabilität verhindert aber, dass sich bereits ein zweites Thema etablieren kann. Das scheint dann erst ab Takt 50 mit der erreichten Doppeldominante F-Dur und der charakteristischen fallenden Quint erstmals auf und wird vier Takte später erreicht. Das Thema ist aus dem „Motiv B“ des Anfangsthemas entwickelt:

Takt 3 („Motiv B“):

Takt 57 (Beginn zweites Thema):

Über pulsierenden Klavierakkorden spielen Cello und Bratsche im Dialog dieses Motiv und seine Umkehrung, harmonisch ergänzt und kommentiert von den beiden Violinen. Die Schlussgruppe ab Takt 99 nimmt wieder Bezug auf den Anfang.

Der Beginn der Durchführung steht mit seinem plötzlichen Innehalten und dem „sprechenden“, rezitativischen Charakter im denkbar größten Kontrast zur überwiegend schwungvoll bewegten Exposition. Erst der letzte von drei Anläufen führt zum eigentlichen Durchführungsbeginn  mit dem Anfangsthema in ungewöhnlicher Moll-Subdominante as-moll, welches aber nach vier Takten plötzlich abgebrochen und vom Klavier mit dem „Motiv B“ (siehe oben) fortgesetzt wird. Dessen Bewegung wird zu Achteln verkleinert und in der Folge unablässig, atemlos in verschiedensten melodischen und harmonischen Varianten wiederholt. Bemerkenswert ist auch hier wieder die Klarheit der Gestaltung: Während in Takt 9 nach dem Hauptthema in Halben und Vierteln das Gegengewicht einer lyrischen Entspannung folgte, wird hier die Beschleunigung von Halben zu Vierteln einfach durch die Achtel weiter geführt und die Musik damit quasi zur Durchführung geöffnet. Diese Achtelbewegung wird in den folgenden rund 70 Takten bis zum Eintritt der Reprise nur einmal durch das Hauptthema in f-moll unterbrochen, kann aber auch dadurch nicht mehr gestoppt werden. Die ganze Durchführung wirkt wie ein virtuoses Klavierkonzert, die Streicher ergänzen nur noch mit Liegetönen und kurzen rhythmischen Einwürfen. Die Passage erinnert in ihrer dramatischen, motorischen Energie und den „dunklen“ Tonarten as-moll, f-moll usw.  etwas an „Das ist ein Flöten und Geigen“ aus der „Dichterliebe“.

Die Energie dieser Achtelbewegung schwingt am Beginn der Reprise (Takt 207) noch in den Streichern nach, bevor mit der lyrischen Variante des Hauptthemas ein (anders als in Takt 9 hier ausdrücklich „Più tranquillo“ bezeichneter) Ruhepunkt erreicht ist. Die Reprise folgt dem Sonatensatzschema mit dem zweiten Thema in der Tonika Es-Dur, gefolgt von einer kurzen, brillianten Coda, die mit dem Hauptthema beginnt, danach aber ganz von dessen „Motiv B“ geprägt ist. Die äußerst wirkungsvollen elf Akzente auf der jeweiligen Zählzeit vier (ab Takt 320) sind gleichzeitig dramatische Zuspitzung sowie eine Art Bremskräfte zur Vorbereitung des Schlusses.

Zweiter Satz, In modo d’una Marcia, Un poco largamente

Das zunächst von der ersten Violine über Klavier- und Streicherakkorden vorgetragene, trauermarschähnliche und mit sprechenden Pausen durchsetzte Hauptthema beginnt in der Subdominante f-moll und braucht seine ganze Länge von acht Takten, um erstmals die stabile Grundtonart c-moll zu erreichen. Das Klavier leitet an dieser Stelle gleichzeitig mit einer punktierten melodischen Figur zur Fortsetzung über (Takt 10). Schumanns einzigartige Idee bestand nun darin, mit dieser melodisch geprägten „Brückenfigur“, die eigentlich zwei thematische Abschnitte miteinander verbindet, den Satz zu eröffnen, also gleichsam in ihn hineinzublenden:

Dieses Motiv hat damit nicht nur gliedernde Funktion zwischen den einzelnen formalen Abschnitten, sondern es bekommt durch die Hervorhebung am Anfang sowie seinen melodischen Charakter und die trotz ausschließlicher Verwendung von Dreiklangstönen schwebende Tonalität (der Grundton c erscheint nur einmal kurz und auf unbetonter Zählzeit) ein eigenes musikalisches Gewicht gegenüber dem Trauermarsch. Dessen stockender Marschrhythmus wird somit schon vor seinem Beginn durch ein ausdrucksvoll gesangliches Motiv in Frage gestellt. Der Trauermarsch ist zunächst sowohl in seinem ersten Abschnitt als auch in der Fortsetzung ab Takt 11 regulär achttaktig phrasiert. Umso überraschender ist daher der thematische Einsatz der Viola mit dem Auftakt zu Takt 18, also bereits nach sieben Takten. Dieser „verfrühte“ Einsatz verhindert weder den Abschluss der achttaktigen Phrase der ersten Violine noch hat er Auswirkungen auf die wieder reguläre Fortsetzung.

Das mit dem „Brückenmotiv“ bereits vorbereitete melodische Element prägt dann ganz den weit ausschwingenden lyrischen Gesang des ersten Trioteils in C-Dur (ab Takt 29), in dem erste Geige und Cello lange Kantilenen spielen, während Klavier und mittlere Streicher mit flächig-bewegtem Klang begleiten. Den flirrenden, unkonkreten Klangcharakter dieser Begleitung erreicht Schumann vor allem durch die Überlagerung von Achtelbewegung in den Streichern und Triolen im Klavier. Er bildet damit einen eigenen Kontrast zu den rhythmisch prägnanten Begleitakkorden beim Trauermarsch.

Nach dessen unveränderter Wiederholung erscheint plötzlich wie aus der Ferne der rezitativische Übergang von Exposition zur Durchführung des ersten Satzes. Hier wie dort bereitet er eine dramatische Steigerung vor, die sich aber hier im zweiten Trioteil nach dem atmosphärischen ersten und dem stillen Trauermarsch in ungleich größerem Kontrast entlädt. Angetrieben vom Klavier drängt die Bewegungsenergie mit großer Kraft nach vorn, wird dabei aber immer wieder durch akzentuierte synkopische Akkorde auf der Zählzeit zwei gestoppt und durch verschobene Akzente in den Streichern bekämpft. Der Kanon, in dem Klavier und unisono geführte Streicher ab Takt 99 in zwei verminderten Septakkorden nach unten stürzen, stellt eine weitere dramatische Steigerung dar, bevor dann in Takt 105 der Fortissimo-Höhepunkt erreicht ist.

Die Triolenbewegung dieses Abschnitts kommt im Klavier noch über zwei weitere Formabschnitte nicht zur Ruhe. Während die Viola mit dem Trauermarschthema bereits zum Anfangsteil zurückkehrt, zeigen sich die Nachwirkungen des Vorangegangenen außerdem im vibrierenden Tremolo der zweiten Violine und in den immer wieder hereinbrechenden Bruchstücken aus dem Agitato-Teil in erster Violine und Violoncello. Erst am Ende (Takt 125) lenkt das Klavier ein, indem es unter den immer noch fortlaufenden Triolen das Trauermarschthema von der Viola übernimmt.

DIe folgende variierte Wiederholung der ersten Trioteils unterscheidet sich vor allem durch die Tonart (F-Dur statt C-Dur) und die immer noch bewegtere Klavierbegleitung (Achtel-Triolen statt Viertel-Triolen). Erst beim abschließend und letztmalig wiederholten Trauermarsch (Takt 165) ist diese Bewegung verebbt. Nur die Tonart f-moll (statt sonst c-moll) erinnert ganz aus der Ferne noch an den Agitato-Teil. Nachdem das Klavier in tiefer Lage den Themenkopf noch zweimal pianissimo wiederholt und dessen beiden Schlusstönen quasi hinterhergelauscht hat, endet der beeindruckende Satz, ebenso ungewöhlich, wie er begonnen hat, mit einem C-Dur-Akkord, der ausschließlich von den drei hohen Streichern gespielt wird.

Dritter Satz, Scherzo, Molto vivace

Wer das mitreissende, vor inspirierter Spielfreude nur so sprühende Scherzo mit seinen unaufhörlich auf- und abwärts schießenden 6/8-Skalen ohne Noten hört, wird wahrscheinlich folgendes wahrnehmen:

Wer dann die Partitur (genau) liest, wird erstaunt sein, das zu sehen:

Der Unterschied sind die Taktstriche: Sie stehen nicht wie erwartet so, dass der jeweilige Zielakkord der Skalen auf den Taktanfang fällt, sondern dieser ist synkopisch in der Taktmitte! Dass das offenbar auch vielen Interpreten noch nicht aufgefallen ist, kann man spätestens am Übergang zum ersten Trio hören, wo bei den allermeisten Aufführungen und Aufnahmen vier Achtel Pause zwischen dem Schlussakkord und dem folgenden Auftakt-Achtel liegen, was metrisch aber nur dann richtig wäre, wenn der Schlussakkord eben am Taktanfang und nicht in der Mitte stünde. Man hört also meist dieses (zum besseren Verständnis ohne den Wiederholungs-Taktstrich):

statt richtig:

Die metrische Ambivalenz, die durch die originalen Taktstriche ausgedrückt ist, setzt sich im ersten Trio dadurch fort, dass die Harmoniewechsel in den gebrochenen Dreiklängen des Klaviers meist bereits ein Achtel vor dem Taktwechsel (und dem entsprechenden Melodietonwechsel in den Streichern) erfolgen. Diese leichte Phasenverschiebung lässt auch in dem ruhigeren Trio latent die Unruhe spüren, die den Satz von Anfang bis Ende durchzieht.

Das zweite Trio (ab Takt 122) beginnt, wieder gegen die Hörerwartung, auftaktig. Diese Auftakte bekommen durch die Begleitakkorde im Klavier besonderes Gewicht, während die folgende Eins nur von den Streichern akzentuiert wird und das Klavier pausiert. Dadurch (wenn die Streicherakzente deutlich und an den richtigen Stellen gespielt werden) entsteht der Eindruck von zwei gegeneinander arbeitenden metrischen Systemen, was zusammen mit dem einfachen Umschalten von 6/8- auf Sechzehntel-Bewegung in zwei Vierteln (bei gleichem Tempo) eine dramatische Zuspitzung des  bis dahin so spielfreudigen Satzes bewirkt.

Nach der erneuten Wiederholung des A-Teils wird in der Coda der Klang immer weiter verdichtet, bis in Takt 255 erstmals alle fünf Instrumente im gemeinsamen Achtelpuls den Fortissimo-Schluss vorbereiten.

Vierter Satz, Allegro ma non troppo

Das ungewöhnliche Finale ist ein Satz der Widersprüche: Seine in weiten Teilen einfache homophone Struktur wird durch das kunstvolle Fugato des Mittelteils und die krönende Doppelfuge am Schluss gebrochen, die über weite Strecken instabile Grundtonart steht im Kontrast zum sicheren, markierten rhythmischen Puls fast des ganzen Satzes und dem charakteristischen aufsteigenden Dreiklang seines Hauptthemas:

Die Streicher eröffnen den Satz mit einem gemeinsam im Forte akzentuierten c-moll-Dreiklang, welcher aber aller demonstrierten Eindeutigkeit zum Trotz nicht das ist, was er zu sein scheint, sondern sich durch den harmonischen Kadenzabschluss im dritten und vierten Takt als Subdominante von g-moll entpuppt. Ein zweiter Gedanke führt zum ersten Mal zur eigentlichen Tonika Es-Dur, die aber hier eher nach einer Ausweichung klingt:

Die Violine übernimmt ab Takt 29 die Führung mit dem ersten Thema in d-moll, die harmonische Entfernung zur Tonika Es-Dur wird mit umso eindeutiger markierenden Klavierakkorden überspielt. Diese Spannung zwischen schweifender, suchender Harmonik und davon scheinbar unberührter klanglicher Sicherheit und rhythmischer Stabilität prägt den ganzen Satz. Das Thema erscheint in der Folge in h-moll (Takt 77), gis-moll (Takt 136), b-moll (Takt 164) und schließlich wieder g-moll (Takt 212), aber nie in der Grundtonart Es-Dur! Die übergeordnete Bewegung geht mit derselben Unbeirrtheit durch entfernte Tonarten wie durch naheliegende. Der bereits in den ersten Takten angelegte, markierte Puls kommt nur einmal (ab Takt 86) zu einer quasi atemholenden Pause.

Wenn in Takt 300 von allen fünf Instrumenten gemeinsam und im Fortissimo das Es-Dur erreicht ist, scheint der Satz und das gesamte Werk an sein natürliches Ende gekommen zu sein. Umso überraschender folgt nach einer harmonisch ausschwingenden Kadenz die abschließende Doppelfuge. Diese Kadenz (Takt 312 bis 318) scheint im vierten Takt zunächst noch einmal nach H-Dur überzuleiten, löst dann aber nach einer Fermate den alterierten Akkord doch in den Dominantseptakkord in B-Dur auf:

Die Sprünge erinnern dabei bereits an das Eröffnungsthema das ersten Satzes, mit dem die nun folgende, nach dem überwiegend homophonen Satzverlauf überraschende Doppelfuge eröffnet wird. In kunstvoller Kombination der Hauptthemen der beiden Ecksätze führt sie das Werk zu einem großartigen, krönenden Abschluss.

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