8. Vierstimmiger Satz
a. Grundsätzliches
Der vierstimmige Satz ist die Darstellung eines
harmonischen Geschehens mit vier gemischten Stimmen, deren
Umfang sich an den vokalen Stimmlagen orientiert:

Dabei sind einige strikte Verbote und
einige möglichst einzuhaltende Regeln
zu beachten.
Verboten ist:
- das Weiterschreiten zweier Stimmen aus einer Oktav oder
Prim in eine Oktav/Prim ("Oktavparallelenverbot"):
- das Weiterschreiten zweier Stimmen aus einer reinen
oder verminderten Quint in eine reine Quint
("Quintparallelenverbot", gilt sinngemäß auch
für Duodezime, also Quint über der Oktav):
- ein Abstand zwischen den drei Oberstimmen von jeweils
mehr als einer Oktav.
Diese Verbote sind unter allen Umständen zu
beachten!
Darüber hinaus sind möglichst
folgende Regeln einzuhalten:
- Die drei Oberstimmen bewegen sich in kleinen
Intervallschritten und entsprechend ihrer melodischen
Richtungstendenz ("Gesetz des nächsten Weges").
- Bei Dreiklängen wird am besten der Grundton
verdoppelt; wenn die Stimmführung es erforderlich
macht, auch die Quint oder die Terz, letztere aber nur,
wenn sie kein Leitton ist.
- Zwei Stimmen sollen nicht bei gleicher Richtung aus
einem beliebigen Intervall in eine reine Quint oder Oktav
weiterschreiten ("Verdeckte Quint- bzw. Oktavparallelen").
Dies gilt vor allem für die beiden Ober- bzw.
Unterstimmen:

- Übermäßige Intervallsprünge sollen
vermieden werden.
- Eine Stimme soll beim Weiterschreiten nicht über
oder unter die vorherige Tonhöhe der benachbarten
Stimme hinausgehen:

- Eine Stimme soll nicht einen vorherigen Ton einer
- anderen Stimme chromatisch
verändert fortführen ("Querstand"):

In der Praxis lassen sich nicht immer alle Regeln
einhalten: Wie schon erwähnt (siehe unter 3b), führt die
strenge Auflösung eines Dominantseptakkordes in Grundstellung zu
einer Tonika ohne Quint, was vor allem bei Schlussakkorden
stört. Man kann deshalb in den Mittelstimmen die
Dominantterz auch zur Tonikaquint abspringen lassen, was
allerdings meist zu einer verdeckten Quintparallele
führt (die dann geduldet werden muss). Querstände
zwischen Neapolitaner und Dominante
können z.B. gemildert werden, indem man zur Dominante
die Septim hinzufügt usw.. Im Einzelfall muss man sich
also häufig zwischen mehreren nicht ganz idealen
Möglichkeiten entscheiden.
b. Beispiel
Das folgende Beispiel "Wer nur den lieben Gott
läßt walten" soll vierstimmig ausgesetzt werden.
Eine erste, noch vorläufige Harmonisierung könnte
so aussehen:

Bei der endgültigen Ausführung des Satzes
können z.B. noch Basstöne (Terz oder Quint im Bass)
geändert oder charakteristische Dissonanzen
hinzugefügt werden. Man beginnt nun am besten mit der
Basslinie. Einerseits achtet man dabei auf eine
möglichst "singbare" also aus nicht zu großen
Schritten bestehende Linienführung, andererseits sollen
melodische Höhepunkte und harmonische Stützpunkte
durchaus durch einen kadenzierenden (Quintfall) Bass
hervorgehoben werden. Schließlich gilt es, eventuelle
verbotene Quint- oder Oktavparallelen zu vermeiden, was am
besten durch eine Gegenbewegung zum Sopran gelingt. Das
Ergebnis sieht dann etwa so aus:

Die melodischen Höhepunkte in Takt 2 und 10
(letzterer auch wegen des Beginns der Ausweichung zur
Tonikaparalle) sind mit einem Quintfall des Basses
unterstrichen, ebenso die Schlüsse in Takt 8 und 16
sowie das Ende der besagten Ausweichung in Takt 12. Ansonsten
ist der Bass möglichst linear geführt und bewegt
sich meist in Gegen- oder Seitenbewegung zum Sopran. Bei den
gelgentlichen Stellen mit Parallelbewegung ist beim nun
folgenden Ergänzen der beiden Mittelstimmen besonders
auf eventuelle verbotene Quint- oder Oktavparallelen zu
achten. Ansonsten gilt das oben in den "Regeln" zu
Verdoppelung, Stimmführung etc. Gesagte. Der fertige
vierstimmige Satz sieht dann so aus:

Noch einige Anmerkungen:
- In Takt 3 wurde der vorgesehene s6
durch
- einen s56 ersetzt, um
die Oktavparallele zwischen Tenor und Sopran zu vermeiden
(der Wechsel von der reinen zur verminderten Quint zwischen
Tenor und Alt wäre hingegen kein Problem:
"rein-vermindert-ungehindert,
vermindert-rein-das-lass-sein"). Die verbleibende verdeckte
Oktavparallele (zwischen Sopran und Tenor ist) tolerierbar,
so lange sie nicht zwischen den zwei Ober- oder
Unterstimmen auftritt. Um sie zu vermeiden, könnte man
hier statt der Subdominante auch eine Doppeldominante
verwenden.
Analoges gilt in Takt 7, wo der Tenor ohne die Sext "a" im
Quintabstand mit dem Bass zur folgenden Dominante gegangen
wäre und in Takt 11, wo sonst die beiden Mittelstimmen
quintparallel gewesen wären.
- In Takt 1 ist das "fis" im Tenor unter dem
vorherigen
- "g" im Bass, was eigentlich
vermieden werden soll (siehe
Regeln). Eine Möglichkeit
wäre, die Tonika auf der Zählzeit zwei mit Terz
im Bass zu wählen:
Analoges gilt für die beiden Unterstimmen in Takt 9,
wo sich zunächst als Lösung eine Oktavierung des
Basses anbietet. Dies hätte jedoch den Nachteil, dass
der zum nächsten Takt folgende Quintfall wesentlich an
Wirkung verlöre, weshalb man diesen Regelverstoß
hier wohl besser in Kauf nimmt.
- Der Tenor springt von der Dominantterz am Ende von
Takt
- 11 zur Quint ab, anstatt sich
leittönig zum Grundton aufwärts zu bewegen
(außerdem bildet er mit dem Bass eine verdeckte
Quintparallele). Dies geschieht, um den wichtigen Dreiklang
(tP) zu vervollständigen, der sonst ohne Quint, aber
mit dreifachem Grundton wäre. In Mittelstimmen ist das
- vor allem bei Kadenzschlüssen - zulässig.
- Die beiden Oberstimmen in Takt 9 bilden von
- Zählzeit 2 zu 3 eine
verdeckte Quintparallele:
Sie entsteht vor allem durch die vorgegebene Melodie und
ließe sich nur mit einem Dominantseptakkord
vermeiden, der aber stilistisch hier nicht passt.
- Bisher wurde noch kein Gebrauch von der
- Möglichkeit gemacht, die
Stimmen rhythmisch unabhängig fortschreiten zu lassen.
Das könnte z.B. für den Schluss so aussehen:
© Christian Köhn