Der Begriff „Urtext“ suggeriert Ursprüngliches, Unverfälschtes, Authentisches. Musiker, die Urtextausgaben verwenden, gehen in der Regel davon aus, den originalen Notentext des Komponisten ohne Hinzufügungen oder Änderungen vor sich zu haben. Ist das wirklich so?
Ursprünge und Geschichte des „Urtextes“
In Bezug auf die Literatur verdrängte das Wort „Urtext“ im 18. Jahrhundert nach und nach den zuvor gebräuchlichen Begriff „Grundtext“, mit dem nach dem Wörterbuch der Brüder Grimm „hauptsächlich der ursprüngliche Text gegenüber der Übersetzung“ gemeint war. In Bezug auf Musikausgaben wurde der Begriff offenbar erstmals für eine am Ende des 19. Jahrhunderts bei Breitkopf & Härtel erschienene Reihe verwendet, die auf Autographen und Erstausgaben beruhte, um nach den Worten der Herausgeber „der Gefahr einer Quellenversumpfung vorzubeugen“ und statt dessen „ein Werk in derjenigen Gestalt […], in der es der Meister ursprünglich vor der Welt hat erscheinen lassen“, zugänglich zu machen. Diese Reihe war ihrer Zeit allerdings offenbar voraus und wurde nach nur wenigen Jahren wegen kommerzieller Erfolglosigkeit wieder eingestellt (siehe auch Wolf-Dieter Seiffert, Festvortrag an der Universität Mainz zum 65. Bestehen des G. Henle-Verlags).
Ein Grund für den lange anhaltenden Erfolg der „Interpretationsausgaben“, „instruktiven“ oder „bezeichneten Ausgaben“ dürfte in der im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch weit verbreiteten Hausmusikpraxis gelegen haben. Laienmusiker bedurften – ob tatsächlich oder vermeintlich sei dahingestellt – der Hilfestellung in Bezug auf Fingersätze, Artikulation, Tempo- und Klanggestaltung usw., was dann zu teilweise erheblichen Eingriffen in die Notentexte führte. Von diesen Ausgaben haben viele „dann wieder anderen Ausgaben gleicher Bestimmung als Grundlage gedient“ (so die Herausgeber der oben genannten Reihe), so dass „manche Werke allmählich mit einer vielfachen Schicht fremder Zutaten“ überzogen wurden.
Eine entscheidende Wende zurück zu den Primärquellen fand dann 1948 mit der Gründung des G. Henle-Verlags statt, der fortan ausschließlich „Urtextausgaben“ veröffentlichte und damit die anderen Verlage nach und nach in Zugzwang brachte. Wolf-Dieter Seiffert (siehe oben) erklärt diesen Erfolg unter anderem so:
Es mag wohl auch die Abscheu vor der Vergewaltigung und dem Missbrauch der als höchstes Gut verehrten deutschen Musiktradition durch das Naziregime eine motivierende Rolle für die intensive Hinwendung zahlreicher Musikwissenschaftler nach 1945 zu den Musikquellen gespielt haben. Oder auch, im selben Kontext, die politisch unverdächtige Beschäftigung mit Archivalien, gewissermaßen der Versuch eines Rückzugs auf die objektivierbaren, puristischen Werte, auf die „Reinheit“ der Quellen- und Textüberlieferung.
Heutzutage ist die Verwendung von Urtextausgaben sowohl bei professionellen Musikern als auch bei bei den meisten Laien eine Selbstverständlichkeit; die einstmals alles beherrschenden „Interpretationsausgaben“ sind weitgehend vom Markt verschwunden (scheinen allerdings durch inzwischen allgegenwärtige kostenlose Download-Angebote eine gewisse Renaissance zu erleben). Der einzige Rest der alten Herausgeberergänzungen und Hilfestellungen sind die vielfach noch vorhandenen Fingersätze, die auch den meisten modernen Urtextausgaben zugegeben sind, die aber dann in der Regel im Druck von denen des Komponisten unterschieden sind.
Der Erfolg der Urtextausgaben hat allerdings eine gewichtige Kehrseite: Dieses Etikett verleitet viele Musiker zu der falschen Annahme, damit seien alle Textfragen ein für alle Mal geklärt, denn mehr als „ur“-sprünglich kann ein Text logischerweise nicht sein. Oder doch?
Was ist „Urtext“?
Die Vorstellung, dass eine Urtextausgabe den alleinigen, unverfälschten „Urzustand“ einer Komposition, mithin den ursprünglichen und reinen „Komponistenwillen“ wiedergibt, basiert auf einer Voraussetzung, die nur in den seltensten Fällen erfüllt ist und der sich oft nicht einmal professionelle Musiker bewusst sind: Um einen solchen idealen, eindeutigen „Urtext“ wiederherzustellen, muss es ihn überhaupt geben bzw. gegeben haben. Das ist tatsächlich nur in den allerwenigstens Fällen so, denn die meisten Werke durchlaufen von den Anfängen ihrer Entstehung bis zum Erscheinen im Druck, ja nicht selten sogar darüber hinaus, einen meist sehr komplexen Prozess der Veränderung, Korrektur, Umarbeitung, allmählichen Verfestigung, an dem neben dem Komponisten auch Kopisten, Herausgeber und Verleger, manchmal auch „Freunde“ in der ein oder anderen Form beteiligt sind. Scheinbar „ursprüngliche“ Autographe sind dabei nur der erste (oder nach vorangegangenen Skzzen, Entwürfen usw. auch zweite, dritte oder vierte) Schritt der Entstehung. Urtextausgaben, die allein darauf basieren, widersprechen also möglichweise dem „Komponistenwillen“, weil sie anschließende Ausarbeitungen unberücksichtigt lassen. Umgekehrt können aber auch Erstdrucke als vermeintlich letztgültige Willensbekundungen des Komponisten in die Irre führen, weil oft nicht mit Sicherheit festzustellen ist, ob Differenzen zu vorangegangenen Autographen, Reinschriften oder Stichvorlagen auf Fehlern, nachträglichen Korrekturen durch den Komponisten oder Eingriffen durch den Herausgeber bzw. Verleger beruhen. Hinzu kommen weitere Probleme: Ein Werk kann zu Lebzeiten des Komponisten bei mehreren Verlagen oder in verschiedenen Auflagen erscheinen – die sich oft mehr oder weniger von einander unterscheiden. Welches ist dann der „Komponistenwille“? Manche Komponisten – z.B. Johannes Brahms – vermerken außerdem in bereits gedruckten Ausgaben aus ihrem Privatbesitz (bei Brahms die sogenannten „Handexemplare“) noch Korrekturen und Änderungen. Sind das dann nach den „letztgültigen“ Drucken die „allerletztgültigen“ Willensbekundungen, die in zukünftige Drucke übernommen werden sollen, oder sind es nur quasi private Gedanken, Überlegungen, wie es auch sein könnte bzw. hätte sein können? Wie sieht es außerdem mit Sekundärquellen wie z.B. Briefen aus, in denen sich Komponisten rückblickend über ihre Werke äußern? Soll man Brahms‘ gelegentliche Metronomzahlen aus den Autographen bzw. Erstdrucken wieder streichen, weil sie ihm nach eigenem späteren Bekunden „von guten Freunden aufgeschwätzt“ wurden und er sie selbst für so widerruflich hielt, dass er sie seinem Freund Alvin von Beckerath spaßeshalber nur im Abonnement anbieten wollte, denn „länger […] wie eine Woche können sie nicht gelten bei normalen Menschen“? Das alles sind Fragen, denen ein Herausgeber sich stellen muss und auf die es grundsätzlich verschiedene Antworten geben kann. Es ist daher kein Wunder, dass sich auch auf denselben Quellen basierende Ausgaben mehr oder weniger voneinander unterscheiden, obwohl das Etikett „Urtext“ etwas anderes suggeriert. An die Stelle von willkürlichen Änderungen und Hinzufügungen der Herausgeber der alten „instruktiven“ Ausgaben treten also bei Urtextausgaben Herausgeberentscheidungen, die zwar nicht willkürlich aber doch prinzipiell subjektiv sind. „Urtext“ bedeutet im modernen Sinn deshalb nicht die Wiederherstellung eines alleinigen, unverrückbaren und unverfälschten Originalzustands (den es aus den genannten Gründen in den allermeisten Fällen nicht gibt bzw. nie gegeben hat), sondern die minutiöse Dokumentation der Differenzen zwischen den Quellen und die plausible Begründung für die jeweils für den Notentext ausgewählte Lesart.
Die Verwendung von Urtextausgaben
Was folgt aus dem Gesagten für die Musizierpraxis? An erster Stelle die Empfehlung, neben den Notentexten auch die Kritischen Berichte, in denen die verwendeten Quellen benannt, beschrieben und bewertet sowie ihre Differenzen untereinander dokumentiert und Herausgeberentscheidungen begründet sind, zu lesen und zu studieren. Erst dadurch wird der Interpret in die Lage versetzt, auch eigene, abweichende Lesart-Entscheidungen zu treffen, die nicht weniger plausibel sein müssen als die des Herausgebers. Bei der Kaufentscheidung zwischen verschiedenen Urtextausgaben desselben Werkes sollte also neben den üblichen Kriterien wie gute Lesbarkeit, praktische Wendestellen usw. auch die Sorgfalt und Genauigkeit der Quellendokumentation und die Plausibilität der Herausgeberentscheidungen eine Rolle spielen.